Digitalisierung – Agile und strukturierte Veränderung

Digitalisierung ist Kochen ohne Rezept. Die Zutaten, Küchengeräte und Köche ändern sich allerdings fortwährend. Im zweiten Teil seiner Blog-Serie zeigt Andreas Middelmann methodische Möglichkeiten, um einen schmackhaften Digitalisierungs-Schmaus zu zaubern.

Digitalisierung ist Kochen ohne Rezept

In einem Kochseminar entdeckte ich zuletzt erstaunliche Parallelen zu Digitalisierung. Obwohl Kochen nicht zu meinen größten Leidenschaften zählt und ich in der Regel mehr am Essen als Kochen selbst interessiert bin, empfand ich einen Aspekt als sehr interessant. Während wir verschiedene Gänge zubereiteten, war es dem Kochprofi stets ein Anliegen zu betonen, dass wir nicht zwingend stringent einem Rezept folgen müssten. Jedoch: „Man muss die Techniken kennen, dann kann man tausend Ableitungen.“ Ähnlich verhält es sich bei der Digitalisierung.

Maximen, um Digitalisierung ins Unternehmen zu tragen

Es ist unmöglich, einen validen und gleichzeitig generischen Punkteplan oder Schritt-für-Schritt-Leitfaden für den Weg in die Digitalisierung zu definieren. Dennoch ist es wertvoll, sich eine grundsätzliche Herangehensweise anzueignen, gewissermaßen eine Grundeinstellung zu Fragestellungen rund um digitalen Wandel. Ich möchte hierzu dem Beispiel Ingo Radermachers in seinem Buch „Digitalisierung selbst Denken“ folgen und dabei keine Digitalisierungs-Anleitung, sondern vielmehr sieben Maximen anbieten, sich der Thematik im Unternehmenskontext anzunähern. Diese müssen nicht zwingend gänzlich überschneidungsfrei sein, stellen jedoch jeweils ein wesentliches Erfolgskriterium heraus, um Digitalisierung machbar zu machen.

  1. Fokussierte Veränderung verfolgen

Ein Friedrich Nietzsche zugesprochenes Zitat beobachtet: „Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, wenige in Bezug auf das Ziel.“ Viel zu oft wird Digitalisierung als Wundermittel und Allzweckwaffe missverstanden, um Prozessoptimierung zu erreichen. Dabei gerät schnell der eigentliche Sinn und Zweck des Prozesses aus dem Blick. Grundsätzlich muss das Geschäftsmodell Möglichkeiten der Digitalisierung inkorporieren und in der Konsequenz müssen Prozesse vor allem auf das Geschäftsmodell und den Geschäftszweck hin ausgerichtet werden.

  1. Perspektivwechsel nutzen

Während strategische Initiativen zur Digitalisierung ihre Berechtigung haben und letztlich die Marschrichtung zur Veränderung vorgeben, steht und fällt der Transformationserfolg mit dem Einbeziehen verschiedener Perspektiven. Gerade für Führungskräfte kann es ein Augenöffner sein, einen Blick auf die Arbeitsebene in ihrem Unternehmen zu wagen und sich mit den alltäglichen Hürden ihrer Mitarbeiter auseinanderzusetzen. Dies bedingt allerdings auch ein Umfeld, in dem konstruktive Kritik und lösungsorientiertes Denken gelebt wird und den Beteiligten eine gewisse politische Unabhängigkeit eingeräumt wird, in dem Kreativität möglich ist. Darüber hinaus kann es sehr sinnvoll sein, den oftmals überraschenden Blickwinkel weiterer interner vormals Prozessunbeteiligter wie auch externes Knowhow in den Findungs-, Konzeptions- und letztlich Transformationsprozess mit einzubinden.

  1. Kritisches Hinterfragen vorleben

Digitalisierung bedeutet vor allem Veränderung. Veränderung von Aufgaben, von Verantwortungsbereichen, von ganzen Geschäftsfeldern. Es ist wichtig, sich davon nicht abschrecken lassen, sondern die Chance zum Hinterfragen des bereits Etablierten zu nutzen. Freies Hinterfragen und Neudenken benötigt aber auch eine Kultur, in der es Freiräume für Fehler und die Möglichkeit gibt, daraus zu lernen. „Fail fast“ ist dabei im Kontext der Digitalisierung ein gewinnbringendes, wenn nicht sogar notwendiges Prinzip, um in einer volatilen Umgebung, deren einzige wesentliche Konstante Veränderung ist, bestehen und erfolgreich sein zu können.

  1. Bürokratische Hürden überwinden

Ein wesentlicher Faktor erfolgreicher Digitalisierung ist die Überwindung bürokratischer Hürden. Dies äußert sich in vielen Facetten. Erstens entstehen Lösungen einerseits oft da, wo lösungs- und nicht prozessorientiert über verschiedene Ebenen unterschiedliche Beteiligte zusammenkommen (siehe 2.). Zweitens muss Digitalisierung in ihrer Schnelllebigkeit und Ambiguität gleichzeitig aber auch konzentriert, pragmatisch und agil umgesetzt werden. Schnelles, unmittelbares Feedback ist oft entscheidend. Bürokratische Freigabeprozesse und dergleichen werden fähige Mitarbeiter nicht nur schnell entnerven und frustrieren, sondern können ganz real ein Faktor sein, der zu verpassten Chancen führt. Drittens sind es letztlich bürokratische Prozesse selbst, die organisch gewachsen infolge von Merger und Acquisition Tätigkeiten, Restrukturierungen und inkrementeller Erweiterung des Unternehmens, ein erster und oftmals unterschätzter Ansatzpunkt sind. Verschlankung, Neuausrichtung, Umwandlung oder sogar Abschaffung können hier der Schlüssel sein, um eine Organisation ins digitale Zeitalter zu bringen und ihr die nötige Agilität, Transparenz, Kollaborationsmöglichkeiten und kreativen Freiräume zu verschaffen.

  1. Volatilität zu Flexibilität wandeln

Flexibilität darf nicht mit Volatilität verwechselt werden. Während Flexibilität einen soliden Standpunkt voraussetzt, von dem aus schnell und zielgerichtet in die eine oder andere Richtung gegangen werden kann, schwingt in der Volatilität das Kurzlebige und Unberechenbare mit. In Zeiten zunehmender Schnelllebigkeit, gilt es Muster zu erkennen, Prioritäten zu setzen und einen Rahmen zu schaffen, in dem Flexibilität gelebt werden kann und nicht zu Chaos verschwimmt. Ständige von der Führungsetage initiierte Scope-Änderungen oder sogar Richtungswechsel führen schnell zu Verunsicherung und Projektleichen. Zu viele Projekte schlagen sich mit Migration von Altlasten aus Vor-vor-Systemen und historisch gewachsenen Verfahrensweisen herum und scheitern zunehmend an der Komplexität aus technischem und prozessualem Sumpf. Zu viele Transformationen scheitern daran, dass sie die Folgeprodukte von nicht zu Ende gebrachten oder zumindest sauber beendeten Vorprogrammen sind. Zu viele Projekte scheitern auch an einem Gemisch aus starrem Hierarchiebewusstsein, Kurzlebigkeit von Entscheidungen und mangelndem Pragmatismus. Flexibel kann nur sein, wer sich auf einem stabilen technischen und organisatorischen Fundament befindet.

  1. Aufgabe von IT-Säkularismus forcieren

Digitalisierung schafft nur Mehrwert als integraler Bestandteil des Unternehmens- und Geschäftsmodells. Während also IT im Speziellen, Technologie im Allgemeinen, keinem Selbst- sondern einem (fachlichen) Unternehmenszweck dient, also ein Medium dessen Realisierung wird, geschieht im gleichen Maße umgekehrt etwas nicht minder Beachtenswertes: Fachbereiche werden zunehmend technisch geforderter und in der Konsequenz bewanderter. Ein Fachbereich, der sich auf seine Fachdomäne zurückzieht und sich somit selbst beschränkt, wird niemals das volle zur Verfügung stehende Potential ausnutzen können und sich womöglich im technischen Geflecht von nicht gesteuerter, aber unweigerlicher Prozessveränderung verlieren. Gleichzeitig verwirkt auch eine IT, die sich nur auf sich selbst beschränkt, schnell ihre Existenzberechtigung. Die oftmals strikte Trennung zwischen Fachbereich und IT muss also überwunden und entsprechende neue Rollenprofile geschaffen werden.

  1. Agiles Change & Release Management fördern

Gerade bei Digitalisierungsbestrebungen kann Schnelligkeit ein entscheidender Faktor sein und Transformation zwar mit rotem Faden und zielgerichtet, jedoch in unzähligen, agilen Inkrementen realisiert werden. Im Extremfall bedeutet dies, dass sich Release Zyklen auf weniger als einen Tag reduzieren. Um digitale Projekte und Programme effektiv und erfolgreich umsetzen zu können, kann es sinnvoll sein, diese zunächst für sich gekapselt und mit einem administrativen Blankocheck auszustatten (in dem Fall liegt es in der Verantwortung des Projekts, Change-Management zu betreiben). Ist dies nicht möglich und/oder gewünscht, muss neben dem Projekt selbst auch das Change & Release Management (anderorts auch Demand Management) eines Unternehmens in seiner Governance Funktion auf Agilität ausgelegt sein. Für notwendige Formalismen und Genehmigungsprozesse gilt die Maßgabe „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“. Auch sollten möglichst wenige, dafür stark zentralisierte und mit Experten-Knowhow ausgestatteten Instanzen am Werk sein.

Sinn und Zweck des Change-Managements darf es nicht sein, politische Absicherung über verschiedene Gesellschaften und Abteilungen hinweg zu sichern, sondern Projekterfolge bestmöglich in den Betrieb und damit das operative Unternehmen zu überführen. Das verlangt einerseits ein tiefgehendes Verständnis der fachlichen und technischen Hintergründe und Zusammenhänge. Andererseits einen umfassenden Überblick über oftmals mehrere teilweise parallellaufende Initiativen, die wiederum wissentlich oder unwissentlich in Abhängigkeit zueinanderstehen.

Es darf keine Haltung entstehen, in der „das Change Management“ auf „das Projekt“ wartet. Stattdessen sollte der Change Manager der erste und beste (interne) Netzwerker sein und proaktiv ständig sein Radar nach möglichen Abhängigkeiten – und damit Synergie-Potenzialen – in seinem Bereich überprüfen. In der Konsequenz benötigt solch eine Abteilung nicht nur Wissen, Verständnis und Koordinationsfähigkeit, um unterschiedlichste Bestrebungen und operatives Geschäft miteinander in Einklang zu bringen, sondern auch die formale und unbedingte Autorität dazu. Wichtig: gutes Change-Management versteht sich nicht als Hüter des Bestehenden, sondern als „Enabler“ von nachhaltiger Veränderung und nimmt somit nicht nur eine inhaltlich koordinierende, sondern oftmals auch eine moderierende Rolle ein. In bestimmten Situationen kann es darüber hinaus sehr sinnvoll sein, gezielt interne oder auch externe Unterstützung in Form eines Mediators und Change Agents einzubeziehen.

Kein generischer Ablaufplan für Digitalisierung

Digitalisierung bedeutet immer situationsbezogene, zweckgebundene Transformationen. Sowohl der Use Case als auch die Strategie zur und die letztliche Umsetzung wandeln sich je nach Geschäftsfeld und unzähligen anderen Faktoren wie Marktsituation, Organisation und technologischem Fundament.. Die digitale Transformation birgt Charakteristiken, die Maximen und eine grundsätzliche Anleitung zur Herangehensweise möglich machen.

Dieser Beitrag gibt einen Denkanstoß und verdeutlicht, mit welcher Grundeinstellung die Herausforderung digitalen Wandels als große Chance genutzt werden kann. Gleichwohl es für Digitalisierung keinen generischen Ablaufplan geben kann, soll hier doch eine Methodik aufgezeigt werden, um sich dem Thema zu nähern. Letztlich bleibt es dabei: erfolgreiche Digitalisierung ist zwar Kochen ohne Rezept, aber dennoch mit Methode.